Erinnerung an eine alte Dame
Mein Name ist Patrick Ziob, ich bin 57 Jahre alt und arbeite seit September 2022 in der Unternehmenskommunikation des Epilepsiezentrums. Letztens war ich auf einer Feier im Werkstattsaal. Gast war auch Rudolf Möller, ehemaliger „Bereichsleiter Wohnen“ – und eigentlich längst im Ruhestand.
Ich musste sofort an Ilse Taubenheim denken, die kürzlich von uns gegangen ist. Viele in Kleinwachau kannten die alte Dame im Rollstuhl. Sie war im Heimbeirat des Tannenhauses aktiv, man sah sie auf Festen, in der Kirche – vor allem aber kannten die Kleinwachauerinnen und Kleinwachauer sie vom Titelbild des letzten „Kleinwachau Magazin 2022“.
Ein wunderschönes Foto
In farbenfroher Blümchenbluse, mit einem großen, beigen Sonnenhut auf dem Kopf lacht sie fröhlich – und ich meine wirklich fröhlich – in die Kamera. Neben ihr kniet – ebenfalls lachend – Rudolf Möller. Ein wunderschönes Foto.
Für mich haben Ilse Taubenheim und Rudolf Möller eine ganz besondere Bedeutung. Sie waren die ersten Kleinwachauer, die ich interviewen durfte. Und – das möchte ich eigentlich nur flüstern, weil es mir jetzt nach gut eineinhalb Jahren in der Unternehmenskommunikation des Epilepsiezentrums fast grotesk erscheint – Frau Taubenheim war der erste Mensch mit einer Behinderung, dem ich Fragen stellte, um nachher darüber zu schreiben. 30 Jahre Journalismus hatte es bis dahin gebraucht.
Der Geist von Kleinwachau
Vor meiner Arbeit in der Unternehmenskommunikation von Kleinwachau, war ich 30 Jahre Reporter und Redakteur bei verschiedenen Medien, in den verschiedensten Aufgabenbereichen. Eine Arbeit, die Spaß machte, spannend und rasend schnell war – aber eine Ich-AG. So groß die Redaktionen auch waren, so sehr sich die Verlage auch das Wort „Team“ auf die Eingangstüre tackern: Journalisten sind Einzelkämpfer.
Eine Tür zu einer neuen Welt
Nicht nur deshalb werde ich Ilse Taubenheim nie vergessen. Sie war es, die mir eine Tür zu einer Welt aufstieß, die ich für mich bis heute als den „Geist von Kleinwachau“ beschreibe. Eigentlich sollte es damals in dem Interview um das gerade fertiggestellte, neue Tannenhaus gehen. Aber wie das dann so ist, man kommt ins Quatschen – und so erzählte mir Ilse Taubenheim von ihrem Leben.
15 Jahre war sie alt, als sie nach Kleinwachau kam. „Ich hatte viele Anfälle und meine Mutti sagte, du musst jetzt hierbleiben”, erzählte mir Ilse Taubenheim damals in dem Interview über den Moment, der ihr Leben komplett veränderte, als ihre Mutter sie ins Epilepsiezentrum brachte.
15 Jahre. Ein Mädchen noch. Und als hätte sie damals meine Gedanken lesen können, fügte sie schnell – fast entschuldigend – hinzu: „Vati war damals schwer krank, und auch Mutti ging es nicht gut.“ Drei Jahre nach ihrem Einzug starb ihr Vater, weitere vier Jahre später auch die Mutter.
„Mit 22 Jahren war Ilse Taubenheim allein auf dieser Welt“, hätte ich schreiben können. Es wäre ein schön-trauriger Journalistenschluss geworden. Aber er hätte halt nicht gestimmt.
Das Leben leben
Denn dann erzählten mir Ilse Taubenheim und Rudolf Möller, wie es weiterging mit dem Leben. Sie erzählten vom Alltag und von Ausflügen, von Freundschaft und Gemeinschaft, von Mut und Wut; dabei lachten sie oder giggelten oder hatten auch mal eine Träne in den Augen. Ich weiß noch, dass ich während des Gespräches dachte: Frau Taubenheim war nie allein. Auch nicht, als sie mir von ihrer besten Freundin erzählte, die vor einiger Zeit verstorben war und die sie sehr vermisste.
Und wenn ich den Nachruf lese, den meine Kollegin Patricia Wachsmuth im Februar-Kleinwachauer auf Ilse Taubenheim geschrieben hat, begreife ich: Von jenem verregneten Frühlingstag im Jahre 1955, als Ilse Taubenheims Mutter das 15-jährige Mädchen in die Obhut von Kleinwachau gab, bis zu ihrem Tod im Januar 2024, war sie nie allein.
Eine achtsame Gemeinschaft
Dieses „Sich-nicht-allein-fühlen“ treffe ich in Kleinwachau immer wieder. Vor allem Klientinnen und Klienten erzählen mir davon. Mal im Haupt-, manchmal aber nur in einem Nebensatz. Natürlich, auch in Kleinwachau klingeln nicht nur ewig die Glöckchen, ist der Himmel immer blau oder hängt voller Geigen. Es gibt Streit, Stress, Neid, Eifersucht – wie überall, wo Menschen zusammenkommen oder zusammen leben. Besonders die älteren Bewohnerinnen und Bewohner wissen noch, wie es war, als es Schlafsäle und wenig Privatsphäre gab.
Aber das Grundgefühl, in einer auf sich achtenden Gemeinschaft und aufgehoben zu sein, eint alle in Kleinwachau, ist mein Eindruck.
Kurz vor Weihnachten hatte ich mich mit Karsten Bilz, unserem Koordinator für die Freiwilligendienste, und unseren internationalen jungen Helfern getroffen. Sie kommen aus Ungarn, der Ukraine, Indonesien, Bosnien-Herzegowina, Georgien, Tadschikistan und Kenia. Sind Christen und Moslems. Eine junge, wilde Truppe, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Und trotzdem sind sie alle befreundet. Weil: „Kleinwachau kennt keine Unterschiede, Kleinwachau kennt nur Freundlichkeit.“ Was sie nicht explizit sagten, aber meinten, war: Es gibt ihn, diesen besonderen Geist in Kleinwachau.
Nie allein: weder im Geben noch im Nehmen
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“, heißt es in der diesjährigen Jahreslosung der evangelischen Kirche (1. Korinther 16,14), die wir in Kleinwachau mit „Hand aufs Herz“ übersetzt haben. Und in diesem Quartal fragen wir uns, sind wir „ganz allein“ bei unserem Bemühen, alles, was wir tun, in diesem großen Wort LIEBE geschehen zu lassen?
Als ich dieses „Ganz allein“ zum ersten Mal las, musste ich sofort an Ilse Taubenheim denken. Sie hat mir zwischen den Zeilen erzählt, dass man in Kleinwachau nie „ganz allein“ ist - weder im Geben noch im Nehmen. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“, ist für mich der tägliche „Geist von Kleinwachau“. Auch wenn das niemand wie eine Monstranz vor sich herträgt.