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  5. Die Ungesehenen: Respekt vor dem Leben

Eine Geschichte zur neuen Jahreslosung

Bevor dieser Text beginnen kann, muss ich mich kurz in den Vordergrund schieben und mich persönlich vorstellen. Mein Name ist Patrick Ziob, ich bin 57 Jahre alt und arbeite seit September 2022 in der Unternehmenskommunikation des Epilepsiezentrums.

Zuvor war ich über 30 Jahre Reporter und Redakteur bei verschiedenen Medien, in den verschiedensten Aufgabenbereichen.

Mit der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen hatte ich nie Berührungspunkte, weder privat noch beruflich. Auch gab es niemanden in meinem Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis, der in der Heilerziehungspflege tätig war. Für mich war die Welt von Kleinwachau, die ich im September 2022 betrat, reines Neuland.

Besuch im Bundestag

Ich musste diese Absätze vorweg stellen, damit Sie, liebe Leserin und lieber Leser, die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählen möchte, mit meinen Augen sehen können. Denn ich will Ihnen von T. erzählen. Ich kürze den Vornamen ab, weil ich weiß, dass T. mit dem, was ich gleich schreiben werde, gar nicht so in den Vordergrund geschoben werden will. Und ich möchte das eigentlich auch nicht.

Denn T. steht für alle Menschen, die ich in Kleinwachau kennenlernen durfte und als Heilerziehungspflegerin oder Heilerziehungspfleger, als Betreuerin oder Betreuer für Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten.

Die Geschichte beginnt an einem zunächst diesigen, aber kalten Herbsttag auf Gleis 1 des Bahnhofes Berlin-Alexanderplatz. Ich treffe T. mit sechs ihm anvertrauten Menschen, einer davon im Rollstuhl. Wir wollen in den Reichstag und uns mit Menschen unterhalten, die dort arbeiten. Wir ist übertrieben: Das ist der Plan von T. und seiner Gruppe, ich bin nur als Fotograf und Berichterstatter dabei.

Reisegruppe mit Rollstuhl

Es soll um politische Bildung gehen. Die Gruppe will sich nicht nur das berühmte Gebäude im Herzen der Hauptstadt anschauen, sondern auch mit dem Bundestagsabgeordneten reden, der in dem Wahlkreis gewählt wurde, in dem das Epilepsiezentrum zu Hause ist. Zur Vorbereitung hatte T. den Klientinnen und Klienten drei Seminare zum Thema „Politik und Bundestag“ angeboten.

T. ist um vier Uhr morgens aufgestanden und hat die sechs Reisenden mit dem großen Transporter in ihren Wohnungen und Wohngruppen abgeholt. Dabei musste er darauf achten, dass jeder für das Wetter passend gekleidet war, dass jeder auch das in seine Tasche packte und mitnahm, was sie oder er für den Tag benötigen würde.

Dann fuhr T. mit dem Transporter zweieinhalb Stunden über die Autobahn zu einem Park- and Ride-Parkplatz, von dem aus er die Gruppe zu einer S-Bahn dirigierte, die alle zu unserem Treffpunkt brachte.

Ein Unfall und ein Streit

Wir quetschen uns in einen Bus. Es  ist eng und voll. Nur mit Mühe gelingt es T., mit dem Rollstuhl und für alle anderen einen Platz zu organisieren. Als wir dann schließlich vor dem Eingang des Gebäudes stehen, fällt  D. - ein junger Mann aus der Gruppe - plötzlich um. Er blutet aus Lippe und Nase. T. versorgt die Wunden, während er gleichzeitig die Gruppe zusammenhält und den Mann im Rollstuhl nicht aus den Augen verliert.

So geht das den ganzen Tag. T. muss alles im Blick halten und haben. Dabei bleibt er stets ruhig, freundlich und fröhlich und scheint die Stunden richtig zu genießen. Vielleicht auch weil er merkt, dass die Menschen, die ihm gerade anvertraut sind, richtig Spaß an der Unternehmung haben.

Einmal kommt Missstimmung auf. Einer aus der Gruppe will unbedingt und jetzt Kaffee trinken gehen. Es dauert eine Weile, bis T. mit Ruhe und Geduld überzeugen kann, dass diese Pause jetzt nicht in den Zeitplan passt. Schließlich soll noch der Alexanderplatz mit seiner berühmten Weltzeituhr besucht werden.

Respekt vor dem Leben

Dann geht es wieder zurück. Wieder mit der S-Bahn, wieder mit einem Fußmarsch zum Auto. Zwischendurch muss T. Inkontinenzmaterial tauschen und – was noch herausfordender ist – eine geeignete Toilette finden. Er  macht es mit Ruhe und einem Lächeln. Dann setzt er sich wieder hinter das Steuer des Achtsitzers. Schwarzer Tee und Humor halten ihn wach.

Es ist 18 Uhr als wir wieder in Kleinwachau ankommen. T. stecken jetzt 14 Stunden Anspannung in den Knochen. Aber auf mich wirkt er glücklich. Denn es war für alle ein schöner Tag. Aber ich denke darüber nach, dass mir - bevor ich nach Kleinwachau kam - nicht klar war, was Menschen wie T. Tag für Tag leisten. Physisch und psychisch - auch und weil sie Verantwortung für Menschen tragen.

Und ich war nicht allein. Die meisten Menschen, die nichts mit der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen zu tun haben, wissen das nicht. Menschen wie T. werden von der Gesellschaft kaum gesehen. Sie geben trotzdem alles, aus Liebe zum Leben, aus Respekt vor dem Leben.

Jetzt an der Schnittstelle zwischen alter und neuer Jahreslosung fiel mir dieses Erlebnis wieder ein. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Genesis 16,13) hieß es für das auslaufende, „alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Korinther 16,14) heißt es für das neue Jahr. 

Aus gesehen werden, wird Liebe geben. Aus „Mit Dir Hier“ wird „Hand auf's Herz“. So haben wir die Jahreslosungen für uns in Kleinwachau übersetzt. 

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