Die richtige Zeit ist immer
Von Patrick Ziob, Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation des Epilepsiezentrum Kleinwachau
Es kann sein, dass wir uns 1986 im „Marlenes“ begegnet sind. Wolfgang Suchner, 23 Jahre Patient in Kleinwachau, und ich, Patrick Ziob, seit etwas über eineinhalb Jahren Mitarbeiter Unternehmenskommunikation des Epilepsiezentrums. Jedenfalls gehen wir schwer davon aus, dass es so gewesen sein muss.
Das „Marlene“ war damals eine neue Bar in Wuppertal (im Bergischen Land zwischen Essen und Düsseldorf gelegen), die alles anzog, was glaubte, etwas zu erzählen zu haben: Künstler, Kreative und andere Kobolde.
Wolfgang Suchner war zu dieser Zeit bereits eine regionale Berühmtheit - als Musiker der politischen Band „Fortschrott“, als Trompeter bei Neue-Deutsche-Welle-Star Hubert Kah und später als Tubist und Schauspieler beim „theatre du pain“.
„Wer weiß, vielleicht haben wir an einem Abend mal gestritten“
Letzteres gehörte zum Line-Up des Anti-WAAhnsinns-Festival im bayerischen Burglengenfeld, das im gleichen Jahr zur Unterstützung der Proteste gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf stattfand.
Bei diesem, das deutsche Woodstock genannten, zweitätigen Konzert-Event stand das Who's Who der heimischen Rockszene auf der Bühne: Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, Rio Reiser, BAP - um nur einige zu nennen. Und eben „theatre du pain“.
Es war dieser Geist von Widerstand, Wildheit und Freiheit, den Wolfgang Suchner damals lebte. Ich war zu dieser Zeit Soldat, auch sehr politisch, aber konservativ, entschlossen Journalist zu werden, und ging jedes Wochenende, wenn ich von Niedersachsen in die Heimat kam, mit meinem besten Kumpel ins „Marlenes“. Dort tranken wir viel, rauchten noch mehr, und diskutierten uns die Seele aus dem Leib. Mit Leuten wie Wolfgang Suchner.
Marlene, die eigentlich Uwe hieß...
Marlene, die eigentlich Uwe hieß, ein Mann in Frauenkleidern war, was aber damals niemanden wirklich interessierte, war ein unfassbarer guter Gastgeber, die die einmalige Gabe hatte, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Im ersten Interview, das ich mit Wolfgang Suchner führte - im Sommer 2022 - sagten, fragten wir uns: Wer weiß, vielleicht haben wir an einem Abend mal gestritten. Über Nachrüstung, AKW's und Helmut Kohl. Die 80er im Westen halt.
Fast 40 Jahre später sitzen wir im „Kleinen Speisesaal“ des Epilepsiezentrums gegenüber und haben Tränen in den Augen, obwohl wir beide nicht die Typen sind, die ihre Emotionen groß zeigen. Es geht nicht um Politik oder das Damals, es geht um das Heute und es geht um Kleinwachau. „Es ist die Atmosphäre, die Kleinwachau besonders macht“, hatte Wolfgang Suchner mir gerade erzählt, „die Art, wie die Leute hier miteinander, mit den Gästen und Patienten umgehen. Man fühlt sich immer willkommen und angenommen. Und das gibt es wirklich nur hier. Ich war in vielen anderen Einrichtungen, aber diesen besonderen Geist gibt es nur hier. Kleinwachau ist mein zweites Zuhause.“
Auf Augenhöhe kommunizieren
Es berührt mich, was er sagt, und wie er es betont. Mir geht es ähnlich. Ich war 30 Jahre Reporter und Redakteur, bei verschiedenen Medien, in den verschiedensten Aufgabenbereichen. Habe vieles gesehen, fremde Länder, besondere Menschen und Situationen. Aber die Augenhöhe, auf der Menschen hier miteinander kommunizieren, ganz gleich ob sie eine Behinderung haben oder nicht, ob sie Patient oder Mitarbeiter sind, ist schon etwas Einzigartiges. Und wenn man es erleben darf, ein Geschenk. Ich kann Wolfgang Suchner verstehen.
Es war im Sommer 1991 als Wolfgang Suchners Leben eine jähe Wendung genommen hatte. Er probte gerade mit Musikerkollegen. Plötzlich verlor er das Bewusstsein. Notarzt, Krankenhaus. Dann die Diagnose: Ein unentdeckter Blutschwamm im Kopf hatte eine Epilepsie ausgelöst hatte. Der Blutschwamm konnte operiert, geklebt und bestrahlt werden – die Epilepsie blieb.
„Dr. Mayer begriff, wie wichtig mir Kunst und Freiheit war und ist“
„Die ersten Ärztinnen und Ärzte, die ich konsultierte, wollten, dass ich mein Leben als freiberuflicher Musiker und Künstler aufgebe. Ich bräuchte Regelmäßigkeit und Sicherheit, hieß es. Doch das war das Letzte, was ich wollte“, erzählt er heute rückblickend. Dann traf er Dr. Thomas Mayer, damals Oberarzt im Epilepsiezentrum Bethel in Bielefeld. Wolfgang Suchner: „Dr. Mayer war der einzige, der zu mir sagte: Bleiben Sie bloß Musiker und freiberuflich tätig. Der begriff, wie wichtig mir Kunst und Freiheit war und ist.“
Eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Bindung entstand. Als Dr. Thomas Mayer 2003 Chefarzt in Kleinwachau wurde, folgte ihm auch Wolfgang Suchner als Patient. Der Klient aus dem Bergischen Land nahm regelmäßig den weiten Weg in die Westlausitz auf, um weiter von Chefarzt Dr. Mayer behandelt zu werden. Bis heute. In der Fachklinik für Neurologie des Epilepsiezentrums bekam Wolfgang Suchner die richtigen Medikamente und lernte, sich ketogen zu ernähren. Nach über 30 Jahren konnte so seine Epilepsie besiegt werden. Seit fast drei Jahren hat er keine Anfälle mehr und darf auch wieder Auto fahren.
Autobiografie über seine Epilepsie
Über seine Zeit als Epileptiker hat Wolfgang Suchner jetzt ein Buch geschrieben. Zusammen mit dem Wuppertaler Schriftsteller Hans Werner Otto. Wolfgang fällt um, heißt es. Ein unfassbar gutes, bewegendes Buch. Beide finden beeindruckende Worte, einen Anfall, die Ängste und Sorgen, die schönen und die Momente voller Hoffnung zu beschreiben. Ich finde, es ist ein Buch, das bleibt. Im Kopf und im Herz.
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“, heißt es in der diesjährigen Jahreslosung der evangelischen Kirche (1. Korinther 16,14), die wir in Kleinwachau mit „Hand aufs Herz“ übersetzt haben. Und in diesem Quartal fragen wir uns: „Wann denn?“
Unser „Wann denn?“ kam später
Die Geschichte von Wolfgang Suchner zeigt, dass die Antwort ganz einfach ist: Immer. Es gibt keinen geeigneten Zeitpunkt, den man per wissenschaftlichem Lehrsatz oder religiöser Auslegung festlegen kann. Wolfgang Suchner hat 33 Jahre gebraucht, um dieses Buch zu schreiben, das vielen Menschen, die an Epilepsien leiden, helfen wird.
Und Wolfgang Suchner und ich haben 40 Jahre gebraucht, um uns kennenzulernen. Eine Begegnung, die für mich sehr wichtig war. Aber Hand aufs Herz, ob wir zusammen bei Marlene mit einem Bier angestoßen haben, das können wir leider nicht sagen. Unser „Wann denn?” kam später - in Kleinwachau.
Epilog: Uwe, die sich Marlene nannte, starb wenige Tage vor Erscheinen von Wolfgang Suchners Buch. Die Kneipe gibt es immer noch und ist ein schillernder Leuchtturm im Wuppertaler Nachtleben. Ein Tipp für jeden Wuppertal-Besucher.