19.09.2023 // Wohnangebote
„Wir betreten Neuland“
Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer, Mitarbeiter im Betreuungsdienst, haben eine Vision: Ein Internetcafé für Kleinwachau – betrieben auch von Klientinnen und Klienten.
Dafür gab es jetzt schon ein Projekt, ein Zweites soll folgen. Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer betreten damit Neuland.
Was verbindet Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer, beide Mitarbeiter im Betreuungsdienst der Wohnangebote Kleinwachaus, mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel? Es ist das Zitat, das wohl jeder kennt: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“
Projekt „Internet für alle“
Erinnern Sie sich noch? Diese sieben Worte lösten damals – im Juni 2013 - den wohl ersten, einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordenen Shit-Storm in Deutschland aus: Auf allen Plattformen der sozialen Medien wurde über die „alte Frau im Kanzleramt“ gelästert.
Gesagt hatte die damalige deutsche Regierungschefin Angela Merkel ihren berühmten Satz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Eigentlich ging es um eine Spionage-Software des US-Geheimdienstes NSA, die in der Lage war, nicht nur Feind, sondern auch Freund auszuspähen.
Doch der Kern des Satzes beschrieb ganz genau eine deutsche Wirklichkeit: Der eine – meist junge – Teil der Bevölkerung konnte mit dem Internet umgehen und nutzte die noch jungen sozialen Medien. Facebook gab es erst fünf, Twitter vier, Instagram drei und Snapchat zwei Jahre (Tik Tok kam erst 2016 auf den Markt). Für die Anderen war das Netz und seine immensen Möglichkeiten – ein unerforschtes und unentdecktes „Neuland“. Da hatte die Kanzlerin Recht.
Kleinwachauer Pionierarbeit
Fast auf den Tag genau zehn Jahre später sagen auch Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer: „Das Internet ist Neuland.“ Und meinen damit den größten Teil der Klientinnen und Klienten auf dem Campus des Epilepsiezentrums, an denen die technische Entwicklung der letzten zehn, 15, 20 Jahre vorbei gegangen sei.
Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer sind in Kleinwachau die Initiatoren des Projekts „Internet für alle.“ Hinter dem breit gefächerten Programm-Namen verbirgt sich das Ziel: „Das Internet für unsere Klientinnen und Klienten nah-, nutz- und erlebbar zu machen.“
Ina Fröhnel: „Wir lebten und genossen unsere Idylle hier umgeben von Wald und Wiesen, aber dass das Netz für uns alle - Klientinnen und Klienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – neue Chancen für Betreuung und Entwicklung bietet, haben wir schlichtweg verschlafen.“
So weit, so gut, soweit Bestandaufnahme und Bestreben. „Was wir am Anfang nicht wussten, war, dass wir in der Tat Neuland betreten werden,“, erzählte Holger Wedemeyer rückblickend, „Neuland für alle. Für die Klientinnen und Klienten. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Für das Epilepsiezentrum. Für die Betreuung von Menschen mit einer Beeinträchtigung in Deutschland generell. Wir ahnten nicht, dass wir in Kleinwachau Pioniere sein werden.“
Was ist „Internet für alle“?
Angefangen hatte alles „ganz harmlos“, im Sommer 2022. Die stellvertretende Bereichsleiterin „Wohnangebote“ spricht Holger Wedemeyer an, ob er nicht das Projekt „Internet für alle“ leiten wolle; es gebe da einen Fördertopf von der „Aktion Mensch“ in Höhe von 10 000 Euro.
Wedemeyer, 57 Jahre alt, seit 2007 im Epilepsiezentrum Kleinwachau, Mitglied in der Mitarbeitervertretung und Stadtrat in Radeberg, sieht das Potential und sagt zu. Er holt Ina Fröhnel, 44, mit ins Boot, die wie er Klientinnen und Klienten in den Außenwohngruppen betreut und seit 2011 in Kleinwachau arbeitet. „Wir sind befreundet, und ich brauchte ihre Zielstrebigkeit und ihre Struktur“, erzählt Wedemeyer rückblickend.
Vorbild PIKSL Labor
Beide haben schnell eine gemeinsame Vision: In Kleinwachau könnte nach Berlin das zweite PIKSEL-Labor in Ostdeutschland entstehen. PIKSL – das steht für „Personen-zentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben“. PIKSL ist eine Marke der „In der Gemeinde leben gGmbH“ (IGL) aus Düsseldorf. Die Initiative verfolgt das Ziel, digitale Medien für alle Menschen – auch mit einer Beeinträchtigung - zugänglich zu machen und weiterzuentwickeln. Dadurch soll die Teilhabe an der Gesellschaft erleichtert und ein selbstbestimmteres Leben erreicht werden.
2011 wurde in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt das erste „PIKSL-Labor“ eröffnet: Ein offener Ort, wo man neue Medien selbständig ausprobieren kann. Ein inklusives Internet-Café für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Inzwischen gibt es deutschlandweit 14 PIKSL-Labore.
Fortbildung für Menschen mit Beeinträchtigungen
Aber Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer wird schnell klar, dass vor der Vision eine andere Mission steht: Die technische Ausstattung sowie die Schulung von Klientinnen und Klienten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie rechnen nach: Das wird das Budget ausreizen. Ein neues (Zwischen-)Ziel des Projektes „Internet für alle“ ist definiert.
Als erstes werden acht Tablets angeschafft, die von der Kleinwachauer IT-Abteilung mit einer speziellen Schutzhülle versehen, betriebsbereit gemacht und mit (barrierefreien) Apps ausgestattet wurden.
Und dann die Überraschung: Nach Aushängen und Flyern in den Wohnbereichen, bekunden 36 (!) Klientinnen und Klienten Interesse, vier Kollegen von Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer wollen mitmachen und sich ausbilden lassen.
Hilfe aus Bethel
Ina Fröhnel: „Ein Glückgriff war, dass wir vier Experten der Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel aus Bielefeld gewinnen konnten, die dort bereits ein PIKSEL Labor betreiben.“ Gemeinsam wurde ein Schulungsplan ausgearbeitet, und am 19. und 20. September 2023 war es dann so weit.
„Die Schulungen waren ein voller Erfolg,“ ist Holger Wedemeyer immer noch begeistert, „die Klientinnen und Klienten blieben die ganze Zeit am Ball und arbeiteten konzentriert – und was das Wichtigste war – leidenschaftlich mit. Einer der Schulenden aus Bethel, selbst ein Klient mit einer Beeinträchtigung, hatte eine Art Pausenraum aufgebaut, wo unsere Klientinnen und Klienten an Tablets und Konsolen abschalten, sich aber dem Computer-Thema auch wieder spielerisch nähern konnten. Es war super.“
Interesse und Begeisterung
Und Ina Fröhnel ergänzt: „Auch die Schulungen für uns Mitarbeiter waren ein voller Gewinn. Wir lernten die Grundlagen und die Möglichkeiten für den Einsatz neuer Medien bei der Betreuung von Menschen mit einer Beeinträchtigung kennen, aber auch die Fallstricke, die im Weg liegen können, Stichworte Datenschutz und Persönlichkeitsrechte.“
Die positive Resonanz auf die Schulungen durch Klientinnen und Klienten, sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer motiviert weiterzumachen. Holger Wedemeyer: „Unsere Vision bleibt das Fernziel: Ein Internetcafé für Kleinwachau, betrieben auch unseren Klientinnen und Klienten.
Internet für alle: Die nächsten Schritte
Aber der nächste Schritt ist es, die digitalen Möglichkeiten in die Betreuung unserer Klientinnen und Klienten zu integrieren, damit diese selbstbestimmt das Netz und seine Möglichkeiten für sich erkunden und entdecken können.“
Deshalb erarbeiten Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer gerade einen neuen Förderantrag. „Das Folgeprojektes soll Multiplikatoren unter den Klientinnen und Klienten und Administratoren unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausbilden,“ erklärt Ina Fröhnel.
Vorbild für andere Einrichtungen
Und Holger Wedemeyer resümiert: „Wir sind in der Tat Pioniere. Für uns, die außer etwas Facebook und Instagram digitale Anfänger waren. Für die Betreuung in Kleinwachau und für alle anderen Einrichtungen, die noch vor dieser Transformation stehen.“
Natürlich ist nicht alles glatt gegangen, es gab Hindernisse zu überwinden und Rückschläge zu verkraften. „Aber“, so Ina Fröhnel und Holger Wedemeyer, „es war es wert, weil es die Zukunft ist. Und augenzwinkernd: „ …und Neuland.“