Mein Kurs: Meine Eltern
Von Patrick Ziob, Unternehmenskommunikation
Ich glaube, Kevin Schietzel war der erste Klient, den ich in Kleinwachau kennengelernt habe. Es war mein dritter oder vierter Arbeitstag in der Unternehmenskommunikation von Kleinwachau. Mein Name ist Patrick Ziob, ich möchte Ihnen auch in diesem Jahr Menschen im Zusammenhang mit der Jahreslosung vorstellen.
Kevin - wir duzen uns - kam in das Büro der Öffentlichkeitsarbeit im Epilepsiezentrum Kleinwachau gerannt. Ja, gerannt. Er trug eine grüne Latzhose und ein blaues Sweatshirt, der Kopf war leicht errötet, seine Augen leuchteten, und er strahlte über das ganze Gesicht. Dieses Leuchten und dieses Strahlen habe ich bis heute als Bild in meinem Kopf.
Kevin wollte zu Lutz Höhne, der mir im Büro gegenübersitzt und Kleinwachaus Kultur- und Sportkoordinator ist. Er wollte ihm erzählen, dass er wieder mal ein Rennen, einen Langstreckenlauf, gewonnen hatte. Und auch, dass es davon Fotos gab, die sein Vater noch schicken würde. Als er wieder ging, drehte er sich noch einmal kurz zu mir um und fragte: „Neu hier?“
Meine Route: Mein Leben
Im Laufe der gut zwei Jahre, die ich jetzt im Epilepsiezentrum arbeite, habe ich Kevin näher kennenlernen dürfen. Durch Gespräche, mal kurz, mal lang, durch den Sport - so bei der REWE-Team-Challenge - oder auch beim Feiern.
Kevin beeindruckte mich durch seine Fähigkeit zu Freude und ehrlichen Gefühlen, durch seinen Willen und seinen Fleiß, aber auch durch seine Bereitschaft, Führung und Verantwortung übernehmen zu wollen.
Kevin, der im Garten- und Landschaftsbau unserer Kleinwachauer Werkstätten für Menschen mit Bedinderung (WbfM) arbeitet, war und ist für mich ein junger Mann mit einem klaren Kompass.
Ich stelle mir die Frage, woher Kevins Stärke kommt? Schließlich ist er infolge einer Mandel-/Polypen-OP seit seiner Kindheit beeinträchtigt. Und ich beantwortete diese Frage für mich mit „Sport“. Denn ich bekam mit, dass Kevin einen engagierten Vater hat, der ihn immer wieder zu sportlichen (Höchst)Leistungen antreibt. Aber wie das so ist im Leben, wenn man von außen auf eine Situation schaut, heißt es nicht, dass man gleich in den Kern gucken kann.
Mein Kompass: Meine Familie
So auch bei Kevin. Ich habe mich mit Kevin und seinem Vater Kai an einem Samstagmorgen in Kleinwachau getroffen. Wir saßen im großen Speisesaal, tranken Kaffee und redeten. Und am Ende glaube ich zu begreifen, warum Kevin in der Lage ist, Kurs halten zu können.
Kevins Eltern sind getrennt. Obwohl sie beide die gleichen Leidenschaften teilten - beide Berufskraftfahrer, beide engagiert in der Feuerwehr - hats halt nicht funktioniert. Die Trennung verläuft nicht konfliktfrei. Das Ergebnis ist, dass Kevin zehn Jahre lang keinen Kontakt zu seinem Vater hat. Kevins Mutter, Diana Schietzel, stellt ihr Leben total um, weil sie nicht akzeptieren will, was man ihr sagt: Sie müsse mit Kevin leben, so wie er ist. Grob- und feinmotorisch sehr eingeschränkt.
Statt Medikamenten, die ihn ruhig stellen, soll er lernen sein „eigenes Ich wiederzufinden“, erzählt Frau Schietzel, die heute Führerin einer Elbfähre ist. Vor allem Reittherapien helfen Kevin Konzentration, Verhalten, Ausdauer und Muskelaufbau zu trainieren. Mit Erfolg.
Mein Ziel: Mein Sport
„Irgendwann habe ich angefangen, die Mutter nach Vati zu fragen und auch zu sagen, dass ich meinen Vater gerne kennenlernen möchte“, erzählt mir Kevin an diesem Samstagmorgen. Hinzu kommt, dass man Kevins Mama rät, der heranwachsende, etwas schlaksige, junge Mann solle mehr Sport machen. Da ist er etwa 18 Jahre alt.
Kevins Mutter Diana, zu der Zeit selbst durch eine schwere Krankheit beeinträchtigt, beendet die über zehnjährige Funkstille und ruft seinen Papa Kai an. Kai Böhmes Leben ist der Sport, besser gesagt das Laufen. Er betreibt es nicht professionell, aber ständig und regelmäßig als Ausgleich zu seinem Beruf. Er läuft Mittel- und Langstrecken, Marathon und Treppenläufe, absolviert sogar Triathlons. Kai Böhme ist 52 Jahre alt, sieht aber zehn Jahre jünger aus.
Vater und Sohn nehmen Kontakt auf. Zunächst vorsichtig. Heute sagen sie: „Wir sind wie gute Kumpels.“ Aber man spürt, dass Kevin zu seinem Vater aufschaut, wenn er erzählt, wie viele Medaillen sein Vater an der Wohnzimmerwand hängen hat. Eine hat es ihm besonders angetan: die mit der großen Gurke für die Teilnahme am Spreewaldmarathon. „Die will ich auch haben, das ist mein Ziel“, sagt Kevin.
Meine Richtung: Mein Glaube
Regelmäßig sind sie unterwegs. „Dresden-Marathon, Radebeuler Treppenlauf, Sparkassen-Cup, Schneeglöckchenlauf, Hartz-Triathlon ...“ Kai Böhme hört gar nicht mehr auf aufzuzählen, an welchen Veranstaltungen er mit seinem Sohn in den vergangenen Jahren teilgenommen hat. „Manchmal muss ich Kevin motivieren. Oder sagen wir treten,“ lacht er, und es ist Stolz, der aus seinen Augen spricht.
Auch mit seiner Mutti hat Kevin jetzt etwas Neues für sich entdeckt: den Glauben. Regelmäßig besuchen sie Gottesdienste des Hallenser Predigers Sammy Egboh. Zu dem Geistlichen hat Kevin offenbar eine enge Bindung. „Es ist gut, jemanden zu haben, dem man alle seine Probleme erzählen kann,“ sagt er.
Bei der Freiwilligen Feuerwehr ist Kevin jetzt auch Mitglied. Wie Mutti und Vati. Aber bei seiner "eigenen" Wehr in Großerkmannsdorf. Und verliebt ist Kevin. Und verlobt. Kevin Schietzel, ein junger Mann, der seine Mitte gefunden zu haben scheint und seinen Weg geht.
„Prüft alles und behaltet das Gute“, heißt es in der Jahreslosung der Evangelischen Kirche für 2025, die wir in Kleinwachau mit „Kurs halten“ übersetzen. Kevin hält Kurs, und dafür bewundere ich ihn, aber er hat auch die Kraft, diesen Kurs zu halten, weil er Eltern hat, die an einem entscheidenden Wendepunkt seines und ihres Lebens den Mut und die Kraft hatten, ihren Kurs zu ändern. Dafür bewundere ich auch seine Eltern.
Dadurch ist Kevin kein verschüchterter junger Mann mit einer Beeinträchtigung, sondern ein positiver, selbstbewusster Mensch, der voller Neugier fragen kann: „Neu hier?”