Mein Kurs: Meine Liebe
Von Patrick Ziob, Unternehmenskommunikation
Während ich Aylin Winecker in unserem Speisesaal gegenübersitze und sie mir von ihrem Weg von einem kleinen Dorf in Thüringen nach Kleinwachau erzählt, fällt mir ein Satz ein, den ich mal gehört habe: Haltet Kurs und schaut nach vorn – nur wer sich bewegt, kommt ans Ziel.
Erinnerung an einen klugen Satz
Genau an diese Wort, die ich vor 26 Jahren gehört habe, muss ich denken, als mir Aylin Winecker ihre Lebens- und Liebesgeschichte erzählt. Die 41-Jährige arbeitet seit fast zwei Jahren bei uns im Epilepsiezentrum Kleinwachau.
Im Tannenhaus begleitet sie unsere älteren Klientinnen auf ihrem letzten Lebensabschnitt. „Kleinwachau ist für mich berufliches Ankommen. Das, wonach ich immer gesucht habe“, erzählt sie mir, „mit Kollegen und Vorgesetzten, die mich, aber auch die ihnen anvertrauten Menschen wertschätzen.“
Aylin Winecker ist 17 Jahre alt, als sie ihr kleines Heimatdorf im Kyffhäuserkreis verlässt. Sie will die Welt entdecken und den Beruf erlernen, für den sie seit einem Schulpraktikum brennt: Altenpflege. Sie schreibt exakt 100 Bewerbungen und erhält eine Zusage; in Marbach am Neckar in Baden-Württemberg, nördlich von Stuttgart.
Meine Ziel: Mein Anker
Doch am Ende ihrer Ausbildung offenbart man den jungen Leuten, dass niemand übernommen wird. „Mir hat es in Baden-Württemberg wirklich gut gefallen, aber mein damaliger Freund hatte eine Eigentumswohnung in Großröhrsdorf, und so zogen wir aus Kostengründen nach Sachsen“, erinnert sich Aylin Winecker.
Sie hält sich mit verschiedenen Jobs über Wasser, auch in der Pflege. Sie lernt einen neuen Mann kennen, heiratet, das Paar kauft sich ein Haus, sie wird Mutter zweier Mädchen, holt ihren Bruder nach Sachsen, weil sie sich irgendwie um ihn kümmern muss. Sie lebt ihr Leben – aber so richtig perfekt ist es nicht. Etwas fehlt.
„Etwas ist anders“
Es ist der 21. November 2019. Aylin Winecker hat Geburtstag und sie hat Freundinnen zum Essen eingeladen. Eine davon ist Grit, Kollegin aus dem Pflegedienst, wo sie gerade arbeitet. Auch Grit kommt aus einer heterosexuellen Beziehung. Der Abend ist schön, wunderschön. Noch in der Nacht bekommt Aylin eine SMS: „Etwas ist anders.“ Die Nachricht ist von Grit.
Sie treffen sich gleich am nächsten Abend wieder, reden, texten tage- und nächtelang. Aylin Winecker: „Wir stellten fest, wir freuen uns über die gleichen Dinge, lachen über die gleichen Witze, haben keine Tabu-Themen voreinander und teilen ähnliche schmerzhafte Erfahrungen. Irgendwann wurde mir klar, ich empfinde mehr als Freundschaft.“
Meine Route: Mein Mut
Neun Tage nach Aylins Geburtstag gestehen sich beide ihre Liebe. Sechs Jahre ist das jetzt her. „Die beste Zeit meines Lebens“, sagt Aylin Winecker.
Doch auch diese Jahre sind nicht einfach. Aylin Winecker muss ihren Bruder und ihren Vater beerdigen, beide sterben nach schweren Erkrankungen. Zu beiden war die Beziehung eng, aber mit ihrem Vater hatte Aylin Winecker vor dessen Tod eine für sie wichtige Auseinandersetzung durchzustehen.
Streit mit dem Vater
Der Vater, ein meinungsstarker und im Dorf anerkannter Fußballer und Kfz-Schlosser, der im Eisenacher Wartburg-Werk gelernt hatte, war alles andere als damit einverstanden, dass seine Tochter, Fußballerin und lebensfroh wie er selbst, jetzt plötzlich eine Frau liebte.
Mehr noch, dass sie für diese Frau eine – wie er dachte – „gute Partie“ verließ. „Es gehört für mich zu den glücklichsten Momenten meines Lebens, als er die neue Beziehung akzeptierte und mit Grit sogar richtig dicke wurde“, blickt Aylin Winecker zurück – und lacht.
Mein Hafen: Meine Frau
Die Schicksalsschläge, die Trennung vom Mann, das neue Leben mit drei Kindern – auch Aylins Frau Grit brachte ein Mädchen in die Beziehung mit – all das stand das Paar durch und meisterte aktuelle und alte Herausforderungen. Aylin Winecker: „Wir waren füreinander da und haben versucht, nicht zurückzuschauen, sondern unser Leben und unsere Liebe zu genießen.“
„Kurs halten, nach vorne schauen – nur wer sich bewegt, kommt ans Ziel.“ Dieser Satz gilt auch für Aylin Winecker. Für ihr Leben und ihren beruflichen Werdegang.
Höhen und Tiefen
Im November 2023 fand sie ihren Weg nach Kleinwachau, in das Tannenhaus 3. „Nach den vielen Auf- und Abs in meinen Jobs vorher bin ich hier richtig angekommen“, sagt sie, „man wird angenommen, respektiert und aufgefangen, wenn es nötig ist. Und es gibt immer offene Ohren für alle Probleme. Ich bin hier glücklich.“
„Prüft alles und behaltet das Gute!“, heißt es in der Jahreslosung der Evangelischen Kirche für 2025, die wir in Kleinwachau mit „Kurs halten“ übersetzen. Deshalb ist auch das Interview mit Aylin Winecker in unserem Speisesaal für mich ein Moment, der bleibt.